» Deutsche Studenten im Kaiserreich

Romantischer Antikapitalismus, Alldeutscher Verband und Theodor Fritsch

Es ist daher kein Zufall, dass in dieser Zeit zahlreiche rassistisch-antisemitische und ›alldeutsche‹ Schriftsteller und Publizisten wie Hermann von Pfister-Schwaighusen (1836-1916), Adolf Reinecke (1861-1940), Heinrich Claß (1868-1953), Philipp Stauff (1876-1923), Wilhelm Schäfer (1868-1952), die sich selbst als „völkisch“ bezeichneten, eine rege Publikations- und Organisationstätigkeit entfalteten. Vereine wie der vom Großindustriellen Alfred Hugenberg (1865-1951) initiierte und mitfinanzierte Allgemeine Deutsche Verband (ab 1894 Alldeutscher Verband), der Alldeutsche Sprach- und Schriftverein (von Adolf Reinecke und Hermann von Pfister-Schwaighusen 1898 gegründet), der Allgemeine Deutsche Schriftverein (1890 in Berlin von Adolf Reinecke gegründet) traten politisch für eine erhebliche Ausweitung des Deutschen Reichs mit Kriegsmitteln ein. Sie begründeten dies nach außen mit einer vermeintlichen, rassischen und kulturellen Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Menschen in den zu erobernden Gebieten sowie einer über die politischen Grenzen hinaus verbreiteten deutschen Sprache, und einem rassischen Antisemitismus, der sich nach innen auch gegen die Kritiker eines ›alldeutschen‹ Programms einsetzen ließ.

Besonders anschaulich wird dies am Beispiel des Publizisten Theodor Fritsch (1852-1933). Die „Verjudung“, eine unterstellte „Vorherrschaft der Juden“ in Wirtschaft, Literatur, Kunst, Presse sowie an den Hochschulen bildete den wesentlichen Inhalt von Theodor Fritschs „Antisemitismus-Katechismus“, der allein von 1886 bis 1893 in 25 Auflagen gedruckt, zu einem „Handbuch der Judenfrage“ erweitert und nach 1933 kanonisiert wurde. Zur Jahreswende 1901/1902 erschien erstmals Theodor Fritschs antisemitische Zeitschrift „Der Hammer. Blätter für deutschen Sinn“ (ab 1922 bis zur Einstellung 1940 lautete der Untertitel „Zeitschrift für nationales Leben“). Im theoretischen Anschluss an etwa Houston Stewart Chamberlains (1855-1927) „Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts“ (1899) wurden hier politische, wirtschaftliche, pädagogische, religiöse, juristische, kunstpolitische und ästhetische Fragen auf der Folie einer „rassischen Erneuerung“ erörtert. Jede Ausgabe endete mit dem Satz: „Es gibt keine Genesung der Völker vor Austreibung der Juden.“

Fritschs Vorstellungen waren inspiriert von einer an den Universitäten sich etablierenden Soziologie und Nationalökonomie, die sich in verschiedenen Varianten auf die Kategorien  „Gemeinschaft und Gesellschaft“  des gleichnamigen Hauptwerks (1887) des Soziologen Ferdinand Tönnies stützte. Tönnies hatte eine psychologische Typologie zweier gesellschaftlicher Formationen aus der Vorstellung einer ursprünglichen, bodenständigen ›Gemeinschaft‹ einerseits entworfen, die er als organisches Gebilde einer ›mechanisierten‹, ›atomisierten‹ ›Gesellschaft‹ auf der anderen Seite gegenüberstellte, einem „mechanischen Aggregat und Artefakt“. Mit dieser ›Gesellschaft‹ beschrieb Tönnies – wie der französische Soziologe Emile Durkheim (1858-1916) bemerkte, der Tönnies’ Buch 1889 in der Revue Philosophique rezensierte – einzelne Erscheinungen kapitalistischer Gesellschaften. Tönnies’ Terminologie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts fruchtbar in der Soziologie und Nationalökonomie. Diese bezogen sich nun auf die ›organische Gemeinschaft‹ und idealisierten das mittelalterliche Handwerk, um eine deutsche ›Gemeinschaft‹ anachronistisch vom westlichen, liberalen Kapitalismus und der industriellen Massenproduktion abzusetzen. Solche romantisch antikapitalistischen Vorstellungen gab es in der Wandervogelbewegung, die um die Jahrhundertwende entstand, und sie verbreiteten sich nun auch im Kyffhäuserverband der Studenten. Der Antisemitismus bekam zunehmend eine antikapitalistische Stoßrichtung, die sich auch für ihr Gegenteil einspannen ließ, weil es ihr an ökonomischer Analyse mangelte, wie sich in den späteren Wirtschaftskrisen in der Weimarer Republik zeigte. Die Soziologie und Nationalökonomie an den Universitäten sah zunehmend von ökonomischer Analyse ab, stand den Krisen der späteren Weimarer Republik relativ ratlos gegenüber und konnte sie nicht prognostizieren. In der konservativen Publizistik wurden die Krisen allenfalls in ein allgemeines historisches Schema des Verfalls eingebettet, für den, in der antisemitischen Variante, eine angebliche ›Herrschaft‹ der Juden in der Wirtschaft, an den Universitäten, der Kunst, Literatur, der Presse und den Wissenschaften verantwortlich wäre.

In welche Richtung die Verbindung solcher Vorstellungen tendieren konnte, zeigt sich bei Theodor Fritsch sehr deutlich. Auch bei ihm finden sich, etwa in seinem Aufsatz „Geistige Unterjochung“ (1913), zwei Typen von Vergesellschaftung, er setzt „sesshafte“ von „nomadischen Lebensformen“ ab. „Sesshafte“ Völker, so Fritsch, seien in ihrer „Geistesart beharrlich und stetig, auf das positive Schaffen im Bunde mit der Natur gerichtet und dadurch an den Boden gefesselt. Ihre Denkweise ist darum organisch und positiv“, ihr Tun „schaffend und aufbauend“. Dagegen sei die „Geistesart“ der nomadischen Völker, worunter Fritsch an erster Stelle die Juden verstand, „unstet und beweglich, [sie] fragen nicht nach dem organischen Zusammenhang der Dinge und denken rein mechanisch und spitzfindig. Ihr Denken schwebt im Unwirklichen (Abstrakten) und sucht den Vorteil des Augenblicks“. „Geistesart“ und „Tun“ der Nomaden sei „ausbeutend, kritisch verneinend, auflösend und zersetzend“. Für Fritsch war der rassistische Antisemitismus zentral für den Versuch einer ethnisierenden sozioökonomischen Pseudoanalyse, die so zu dem Schluss kam, der „schaffende und aufbauende“ Deutsche in seiner sesshaften Gemeinschaft werde vom „nomadischen Kapital“ der Juden ausgesaugt.

» weiter zu Nationalismus und Rassismus in den Wissenschaften