Hermynia Zur Mühlen, Ende und Anfang. Ein Lebensbuch, 1929

Quellenbeschreibung

Auf Anregung der Frankfurter Zeitung verfasste Hermynia Zur Mühlen für den S. Fischer Verlag 1929 einen autobiografischen Rückblick auf ihr Leben als Diplomatentochter aus Adelskreisen und ihre politische und soziale Entwicklung hin zu einer überzeugten Kommunistin. Manfred Altner, ihr Biograf, charakterisierte dieses Buch, das zuerst auf der österreichischen und dann auf der deutschen Schwarzen Liste stand, folgendermaßen: „Ursachen und Ziele ihrer Abkehr vom aristokratischen Milieu werden sichtbar und die Radikalität ihrer politischen Entscheidungen wird aus den krisenhaften Verhältnissen der Donaumonarchie erklärt.“

Hermynia Zur Mühlen lässt in ihrem autobiografischen Roman keinen Zweifel über ihren Missmut hinsichtlich der aristokratischen Verhältnisse, in die sie hineingeboren wurde und aufwächst, aufkommen, wenn sie bereits zu Beginn schreibt: „[…] ich war bereits in zartem Alter durch die Lektüre der ‚Neuen Freien Presse‘ und anderer liberaler Zeitungen ‚verdorben‘ worden. Eigentlich durfte man damals in unseren Kreisen nur das ‚Fremdenblatt‘ lesen, aber meine Großmutter war eine Engländerin mit der liberalen Einstellung der damaligen Engländer […]“ (S. 11f.). Schon früh begreift sie die verheerenden sozialen Zustände in der Gesellschaft und betrachtet die arbeitende Bevölkerung mit großer Ehrfurcht und Respekt. „Denn nun war ich von einer Sache bereits völlig überzeugt: an allem Elend, das es in der Welt gibt, sind die Aristokraten schuld.“ (S. 24). Über ihre adelige Privilegiertheit reflektiert sie: „Eigentlich lebten wir Bewohner dieser alten Welt wie in einem schönen, wohltemperierten, von Blumenduft erfüllten Glashaus. Draußen ereigneten sich allerlei schreckliche Dinge, aber wir sahen nur undeutlich durch die überrankten Fenster und ließen uns daher von ihnen nicht stören. […]“.

Ihre Großmutter und ihr Onkel, Botschafter in Japan, prägen maßgeblich ihr politisches Denken und Handeln: „In unserem privaten Glashaus aber hatte gleichsam die kluge Hand meiner Großmutter eine Scheibe blank geputzt, durch die ich in die Wirklichkeit hinaussehen konnte, und da erblickte ich schon als Kind das Problem aller Probleme, Reichtum und Armut, oder was man damals die ‚armen Leute‘ nannte.“ (S. 21f.). Sie möchte keine Kinderbücher vorgelesen bekommmen, sondern hört gebannt zu, wenn man ihr aus Dickens, Swift, Thackeray oder Jerome K. Jerome vorliest, letztgenannten wird sie später selbst übersetzen. Zur Mühlen begleitet ihren Vater, einen Diplomaten, auf seinen Reisen und erzählt unterhaltsam und wachen Auges von ihren Eindrücken. Als sie im Pensionat für höhere Töchter in Dresden sich dem so genannten Intellektuellen-Kreis anschließt, lernt Zur Mühlen die sozialistische Literatur und russische Romane von Autoren wie Turgenjew und Tolstoi kennen, die sie nachhaltig beeinflussen. Die junge Frau lässt sich in einem Kloster zur Volksschullehrerin ausbilden, darf aber wegen ihres Standes nicht unterrichten. Weiterhin begleitet sie ihren Vater auf seinen Reisen bspw. nach Marokko, Italien, Libanon, Syrien, Ägypten und in die Schweiz.

Ihre Eltern versuchen Hermynia zu verheiraten, ein Kommandant in Konstantinopel zeigt Interesse an ihr, „[…] aber der Kommandant gefiel mir nicht. Ich sagte, zum Ärger der Mutter, nein. Zum Ärger der Mutter und zum Glück für mich und den Kommandanten, der heute eine Leuchte der Deutschnationalen ist.“ (S. 154). 1905, mit 24 Jahren, verlobt sie sich mit dem baltischen Großgrundbesitzer Victor von Zur Mühlen, heiratet ihn und ist nun dafür bestimmt, eine gute Hausfrau und Mutter in vom deutschbaltischen Adel geprägten Livland zu werden, doch fällt es ihr zunehmend schwer. Scharf beobachtet sie die sozialen Unterschiede in der ländlichen Bevölkerung und der Standesdünkel unter den besitzenden deutschen Gutsherren: „Mein Mann fühlte ebensowenig wie die übrigen Gutsbesitzer den ungeheuren Widerspruch, den es in ihrem Leben gab. Auf der einen Seite Luxus: unzählige Dienstboten, Reit- und Fahrpferde, Unsummen, die für große Jagden ausgegeben wurden, für alte Weine und Speisen, auf der andern ein völliger Mangel aller jener kleinen Dinge, die das Leben hübsch machen […] Die leidenschaftliche Liebe zum Deutschtum ließ diese Menschen alle ausländische Kultur verachten, Russisch lernten die Mädchen aus Patriotismus nicht, gut Französisch oder Englisch zu sprechen war fast unmoralisch. Überhaupt war es unvornehm, gebildet zu sein, das überließ man den ‚Literaten‘.“ (S. 208f.). Vehement begehrt sie gegen ihren Mann und seine Gepflogenheiten auf, wenn sie bspw. von dem ehrlichen jüdischen Viehhändler Herrn Meischtke erzählt, der regelmäßig auf ihrem Gut erscheint: „Meine Wahrheitsliebe empörte sich, wie kann man, als Aristokrat, einem armen Mann, der mühselig seinen Unterhalt verdient, minderwertige Ware anhängen wollen? Ich schnitt Gesichter und platzte schließlich heraus: ‚Kaufen Sie die Kuh nicht, Herr Meischtke, die war monatelang krank und wird nicht fetter!‘“ (S. 212f.).

Als „verrückte Österreicherin“ ist Hermynia Zur Mühlen bekannt, denn sie beugt sich den bestehenden Regeln nicht, setzt sich dafür ein, dass die Arbeiter:innen auf dem Gut schnellstmöglich gegen Pocken geimpft werden, während ihr Mann sie mit den folgenden Überzeugungen konfrontiert: „Du hältst nur aus Feigheit zum Pöbel. Weil du glaubst, daß er bald an die Macht gelangen und dir, da du jetzt für ihn eintrittst, nichts geschehen wird. Merkwürdig, du bist doch sonst nicht feige.“ (S. 228). Auch mit dem ein oder anderen Baron auf den ausgerichteten Gesellschaften gerät sie in Konflikt: „Später verscherzte ich mir die Freundschaft des Barons endgültig, und seine Besuche wurden seltener. Er war ein wilder Antisemit und konnte stundenlang über die Juden schimpfen. Das reizte mich.“ (S. 222). Lichtblicke in ihrer ländlichen Existenz sind die Besuche beim Buchhändler in Dorpat, der im Keller die so genannte verbotene Literatur beherbergt wie bspw. die Werke von Bebel, des frühen Sombart oder Stepniak und Kropotkin. Die Auseinandersetzungen mit ihrem Mann eskalieren und eines Abends läuft sie hinaus in die kalte Winternacht, die Gutsarbeiterinnen und -arbeiter suchen und finden sie, resigniert gibt sie zu bedenken: „Ich hatte davon geträumt, diesen Menschen zu einem besseren, leichteren Leben zu verhelfen, und nun war ich für sie ein ‚armes Kind‘, das man betreuen und dem man helfen mußte.“ (S. 238). Gesundheitlich schwer angeschlagen verlässt sie das Baltikum und reist nach Davos, um sich zu erholen. In diesem Zeitraum beginnt der Erste Weltkrieg, sie schreibt: „[…] ich sah nur arme Teufel, die in den Tod getrieben wurden, sinnlos und nutzlos, und erkannte auch das einzige, das imstande ist, imperialistische Kriege zu verhindern.“ (S. 260). Hermynia Zur Mühlen hofft auf die gesellschaftlichen Verbesserungen durch die Russische Revolution 1917, sie lässt sich scheiden und erinnert sich an den für sie wichtigsten Moment: „[…] ich zog meinen Trauring vom Finger und kaufte mir einen neuen glatten Goldreif, einen Trauring mit der russischen Revolution. […] Ich brach mit meiner alten Welt und wagte den Sprung in die neue. […] Hinter mir lag eine sterbende Welt der Privilegien, vor mir die neue, lebensvolle, die erst im Entstehen begriffen ist.“ (S. 269). Für sie beginnt nun ein neues Leben, sie tritt der KPD bei und wird eine überzeugte Kommunistin.

Text: Katrin Huhn

Achtung! Rassistische Begriffe auf den folgenden Seiten: S. 21, S. 95f., S. 99, S. 156

Empfohlene Zitation

Hermynia Zur Mühlen, Ende und Anfang. Ein Lebensbuch, Berlin 1929, veröffentlicht in: Digitale Bibliothek verbrannter Bücher, <https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-3> [27.04.2024].