» Deutsche Studenten im Kaiserreich

Nationalismus und Rassismus in den Wissenschaften

Der Rassismus hatte verschiedene Seiten und kaum eine Wissenschaft an den Universitäten blieb von ihm völlig unberührt. Seit den 1880er Jahren wurde er in zunehmendem Maße wichtiges Element in rückschrittlichen, biologistischen und ethnisierenden Gesellschafts- und Wirtschaftsanalysen, die soziale Entwicklungen zu erklären suchten, indem sie Eigenschaften und Verhaltensweisen postulierten, die einer Gruppe von Menschen ›biologisch‹ oder ›rassisch‹ zukämen. Solche Annahmen konnten leicht dazu verführen, von Menschen hervorgebrachte Zustände auf ›natürliche‹ und unveränderliche Faktoren zurückzuführen.

Daneben behinderte der Rassismus in den Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften historische Analysen. In dem Maße, wie neben die Geschichte der ›großen Männer‹ – Könige, Kaiser, Offiziere, die scheinbar Geschichte machten, indem sie eine Gesellschaft gewissermaßen hinter sich herzogen – Rassen, wie in den Darstellungen von Ludwig Woltmann (1871-1907), zu den eigentlichen Trägern der Geschichte wurden, bildete eine prinzipielle Ungleichheit zwischen den Menschen eine Voraussetzung der Forschung. So konnten nicht nur Ausbeutung und Unterdrückung als ›naturgemäße‹ Gegebenheit verharmlost werden, sondern es ließ sich auch die ›deutsche Berufenheit‹ einer nordischen, arischen oder germanischen ›Rasse‹ zur Weltherrschaft postulieren. Rassentheoretische Vorstellungen fanden nicht nur Eingang in die Arbeiten angesehener Nationalökonomen und Soziologen wie Werner Sombart (1863-1941), sondern erfuhren bis in die Publizistik liberaler und linksliberaler Kreise hinein eine beachtliche Verbreitung. Der Industrielle, Publizist und Politiker Walther Rathenau (1867-1922), Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei, ging, obwohl er als Reichsaußenminister im Juni 1922 Opfer eines antisemitischen Mordanschlags wurde, etwa in seiner Aufsatzsammlung  „Zur Kritik der Zeit“ (1912), seinerseits von einer Unterscheidung zwischen geschichteten und einschichtigen Völkern aus. Während allein ›geschichtete Völker‹ „Historie machen und erleben“ (Germanen, Griechen, Japaner, etc.), zeigten „einschichtige Völker, das heißt solche, die aus einheitlich entstammten oder gut zusammengekochten Rasseelementen bestehen“, wie Ägypter, Chinesen oder Slawen, nur eine „langsam-technische Entwickelung“, „die aber keinen Aufstieg zu einer idealen Kultur bedeutet, vielmehr in Geist und Kunst eine allmähliche Verflachung und Vernüchterung“ nach sich ziehe. Dagegen entstammten die „Herrscherhäuser deutscher Zunge und ihre Gefolgschaften einer Oberschicht, die sich bei Strafe des Verlustes edelster Rechte mit fremdem Blute niemals mischen darf. Die Heere als Träger und Garanten der Nationalmacht nach außen, der Herrschermacht nach innen, gehorchen adligen Führern.“ Mit der angenommenen Ungleichheit begründete Rathenau eine biologisierende Hierarchie in und zwischen verschiedenen Gesellschaften.

Dass die Universitäten, von Ausnahmen abgesehen, nicht die gesellschaftliche Funktion übernehmen konnten, emanzipatorisches Wissen zu verbreiten, dazu trugen auch zahlreiche Berufsverbote bis zum Ende des Deutschen Kaiserreichs bei. Auch nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes (1878-1890) gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ konnte mit Ausnahme der freien Hansestadt Bremen niemand Beamter werden – weder Eisenbahner noch Postbeamter, Lehrer oder Hochschullehrer – der sich öffentlich zur SPD bekannte. Dadurch blieb Sozialdemokraten der Weg zu Lehrstühlen verwehrt. Sie konnten sich habilitieren und ›Privatdozenten‹ werden, doch als solche bekamen sie kein Geld, sondern mussten sich ihren Lebensunterhalt, zusätzlich zu ihrer Lehrtätigkeit, anders verdienen. Dieser Umstand begünstigte, dass sich Hochschulen und Wissenschaften bestimmten kritischen Methoden versperrten und an konservativen Theorien festhielten. Das Wissen, welches die Studierenden an den Universitäten aufnahmen, war dadurch in der Regel nicht geeignet, sie in die Lage zu versetzen, sich von nationalistischen, rassistischen und militaristischen Sichtweisen freizuhalten oder emanzipieren zu können.

Ein in den 1890er Jahren breit diskutiertes Beispiel eines solchen Berufsverbots betraf den Physiker Leo Arons (1860-1919). Er lehrte als ›Privatdozent‹ an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, wo er sich 1888 habilitiert hatte. Arons’ Spezialgebiet war die Experimentelle Physik. Er forschte zur elektrischen Leitfähigkeit und zu elektromagnetischen Wellen und leistete auf diesem Gebiet grundlegende Arbeit. Am Physikalischen Institut der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität gelang ihm 1892 die Konstruktion der ersten Quecksilberdampflampe. Arons kam aus einer jüdischen großbürgerlichen Familie und wurde Anfang der 1890er Jahre Mitglied der SPD, in deren revisionistischem Flügel er sich engagierte. Formal konnte Arons die Lehrerlaubnis nicht entzogen werden, da er als Privatdozent nicht verbeamtet war. So wurde in Preußen 1898 die sogenannte „Lex Arons“ eingeführt, ein Gesetz, das neben der Verbeamtung auch die Habilitation von Sozialdemokraten verbot und rückwirkend widerrief. Arons musste im Januar 1900 die Berliner Universität verlassen.

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