Die Gründung der Deutschen Studentenschaft 1919 in Würzburg
Auf diesem ersten, von nun an jährlich stattfindenden Studententag als Teil der sich gerade etablierenden studentischen Selbstverwaltung trafen sich Studierendenvertreter aller Hochschulen, die in Würzburg einen Dachverband der Einzelstudentenschaften gründeten, die Deutsche Studentenschaft (DSt). Demokratische Vertreter unter ihnen wie der Münchner Immanuel Birnbaum (1894-1982), der 1917 in die SPD eingetreten war, bildeten eine kleine Minderheit, die wenig Einfluss auf die von der Studentenschaft im Juli 1919 verabschiedete Verfassung nehmen konnte.
Es ist interessant, die politischen Haltungen und Mehrheitsverhältnisse der in Würzburg versammelten Studenten mit den Programmen der politischen Parteien zu vergleichen, mit denen letztere im Januar 1919 bei der Wahl zur Nationalversammlung angetreten waren. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg sprachen sich MSPD, USDP, die Zentrums-Partei und die Deutsche Demokratische Partei (DDP) in ihren Programmen zusammen mit den ihnen jeweils nahestehenden Gewerkschaften – einschließlich der Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaft für die DDP und der christlichen Gewerkschaften für das Zentrum – für Sozialisierungen aus, für eine Vergesellschaftung des Bergbaus, der Stahlproduktion sowie eines Teils der Banken. Die Unternehmen der rüstungsrelevanten Branchen hatten, von den Banken mit Krediten versehen, im Krieg enorme Gewinne erzielt, und in verschiedenen Abstufungen – die Pläne reichten von der einmaligen Besteuerung dieser Gewinne bis zur Verstaatlichung der Unternehmen – teilten diese Parteien die Einschätzung, sie müssten nun durch teilweise oder vollständige Vergesellschaftung ihres Privateigentums ›gezähmt‹ oder der kapitalistischen Konkurrenz ganz entzogen werden, damit Krieg kein profitables Geschäft mehr sei. Lediglich die konservativen Parteien, die Deutsche Volkspartei (DVP) und Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die bei diesen Wahlen zusammen keine 15% erzielten, sprachen sich gegen solche Sozialisierungen aus. Ihre diesbezügliche Positionierung dürfte ein Grund für ihr bescheidenes Abschneiden bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 gewesen sein.
Unter den deutschen Studenten hingegen waren die Mehrheitsverhältnisse im Sommer 1919 praktisch genau umgekehrt. Für eine große Mehrzahl von ihnen war die Niederlage in einem Krieg mit millionenfachem Tod auf allen Seiten kein Grund, von militaristischen und imperialistischen Positionen abzurücken. Im Gegenteil, sie traten 1919 implizit für Ansprüche auf Gebiete ein, die Deutschland im Versailler Vertrag hatte abtreten müssen. Die im Vertrag festgelegte Selbständigkeit Österreichs ignorierten die Studenten, indem sie die Vertreter der Universitäten Graz und Innsbruck auf dem ersten deutschen Studententag als „Deutsche“ anredeten und die Studentenschaften „Deutschösterreichs“ und des Sudetenlandes, nach ihrer Verfassung, als Teil der Deutschen Studentenschaft betrachteten. „Zur Ausländerfrage“ wurden auf dem ersten Studententag besondere Beschlüsse erlassen, die rassistisch zwischen „deutschstämmigen“ und „fremdstämmigen“ Ausländern unterschieden. Die große Mehrheit der Studenten forderte für „Fremdstämmige“ verschärfte Prüfungsbedingungen und lehnte ihre Aufnahme an deutsche Hochschulen ab, auch wenn sie darüber praktisch nicht entscheiden konnte. Über die Aufnahme von Ausländern in die Deutsche Studentenschaft sollte ein Ausländerausschuss der DSt entscheiden. So ist es nicht überraschend, dass man in dieser Verfassung, die sich die versammelte Studentenschaft gab, ein Bekenntnis zur Republik vergeblich sucht. Offen positionierte sie sich für ein ›Großdeutschland‹ auf Basis rassistischer Vorstellungen gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags und die zeitgleich entstehende Weimarer Verfassung wenn es in ihrem ersten Paragraphen hieß: „Die Studierenden deutscher Abstammung und Muttersprache [nicht deutscher Staatsbürgerschaft, die Red.] der Hochschulen des deutschen Sprachgebietes bilden die deutsche Studentenschaft.“
Der Studentenvertreter und Jura-Student Edgar Stelzner (1892-1959), der 1918 in die rechte Deutsche Vaterlandspartei eingetreten war und 1921 Vorsitzender des Deutschen Hochschulrings wurde, begründete die Anträge des Ausländerausschusses auf dem zweiten Studententag im Juli 1920 in Göttingen folgendermaßen:

„Unser Volk liegt in tiefer Not. Ob es jemals wieder in die Höhe kommt, hängt davon ab, daß die deutsche Wissenschaft als deutsche Wissenschaft wieder von der Welt Besitz ergreifen kann. Aber sie kann nur deutsch bleiben, wenn ihr genug Kräfte aus unserem Volke zuströmen, wenn in ihr nicht die Ausländer zur Ueberwucherung kommen. Die Notlage unsers Volkes erschwert die Lage unserer Hochschulen, erschwert seinen eigenen Söhnen den Weg zur Hochschule und das Leben als Student. Die Gefahr, daß diese Erschwerung durch Ausländer vermehrt wird, kann nicht geleugnet werden. So muß eine Beschränkung des Ausländerzuzugs an unsern Hochschulen stattfinden. […] Es können heute nur solche Ausländer an unsern Hochschulen zugelassen werden, deren Anwesenheit uns für unser deutsches Volk von Bedeutung erscheint.“
Stelzner begründete die ›großdeutsche‹ und zugleich ausländerfeindliche Ausrichtung der Verfassung der Deutschen Studentenschaft folgendermaßen: Er akzeptiere Ausländer als Kommilitonen nur, wenn sie ›germanischen Ursprungs‹ seien, und auch nur dann, wenn sie dem ›deutschen Volk‹ zu Geltung und Ruhm verhelfen, wenn sie mithelfen, „daß die deutsche Wissenschaft als deutsche Wissenschaft wieder von der Welt Besitz ergreifen kann“ – so der Vorstellungskomplex Stelzners, der bruchlos an ein ›alldeutsches‹ Programm anschloss.