Gina Kaus: Morgen um neun (1932)
Gina Kaus bzw. ihr Erzähler berichtet vom späten Nachmittag, Abend, der Nacht und den Morgenstunden eines Paares, das am darauffolgenden Tag Morgen um Neun seinen Scheidungstermin wahrnehmen wird.
Das geschieht in zwei den Roman parallel durchziehenden Handlungssträngen, die jeweils einen der Ehepartner, Erwin und Elisabeth zum Handlungs-, eher Gesprächsmittelpunkt haben. Der Roman offenbart durch seine Szenen (die epische Bauform Bericht taucht nur in Rückblenden auf) seine dramatische Struktur mit Exposition, bewegendem Moment, Schürzung …, wobei auffällig die filmischen Mittel sind wie Rückgriff in der Chronologie (um die Geschichte aus zweiter Perspektive erzählen zu können, die Figurenkonstellation bei Gesprächen etwa im Auto und an Tischen, Gänge durch die Stadt, Fahrten im Taxi und der Eisenbahn, harte Schnitte (das meint: Kapitel-Enden) u.ä.
Das Personal gehört entweder in die besseren Kreise einer Großstadt (nur angedeutet: Wien) oder aber in das einfache Milieu der Vorstadt: Handwerker, kleine Geschäftsleute, ein Gasthofbesitzer … da kann der Text, der sonst nüchtern, sachlich , ohne übertriebenen Adjektivgebrauch daherkommt – aber mit Witz! – eine Nähe zum Naturalismus nicht verleugnen.
Man denke an das hier zu hörende Wienerisch gar nicht so feiner Art oder an das Elisabeth ekelnde Fleisch geschlachteter Tiere auf einem Lieferwagen, kaum von einer Plane bedeckt, mit dem sie kutschiert wird.
Man wird sich also scheiden lassen: Erwin, der durch glückliche Umstände und allerdings auch eigene Arbeit gut etablierte HNO-Arzt, und seine Gattin Elisabeth, Hausfrau und erst vierundzwanzig Jahre alt.
Nachdem das Paar, das sich eine honorige Scheidung gestatten kann: ohne Groll, wobei Elisabeth mit der ehemaligen gemeinsamen Wohnung bedacht wird (der Notar, den man gemeinsam ein letztes Mal aufsuchte, muss lange nach einem Grund für das vom Gesetz geforderte „Zerwürfnis“ suchen), erleben wir in den folgenden Stunden ein ganzes Kaleidoskop unterschiedlichster Orte, an denen sich die Protagonisten aufhalten.
Er, Erwin, besucht mehrfach (d.h. in unterschiedlichen Kapiteln) seine Geliebte Franzi – die von Elisabeth „gern“ hingenommen wird -, findet sich auch mehrfach auf einem kleinen Fest, das sein Galerie-Freund gibt, dringt in seine alte Wohnung ein, weil er gerade Elisabeth in „Trentinis Weinstube“ mit einem Mann überrascht hatte, den er für ihren Geliebten hält, um dort die beiden in flagranti zu ertappen oder wenigstens Beweismaterial für ihren Ehebruch zu finden.
Dieses sich „in Würde“ scheidende Ehepaar, das bisher (man war fünf Jahre verheiratet gewesen) in größter Offenheit miteinander umging, will wegen der Frigidität Elisabeths auseinander gehen. Nun gehört Frigidität zum modischen Krankheitsrepertoire der Zeit, meist vom Manne „erfunden“; der sich so, sogar mit Wissen der Gattin, seine Eskapaden genehmigen darf.
Nun findet aber Erwin bei seiner schon erwähnten Durchsuchungsaktion der vormaligen gemeinsamen Wohnung einen Brief des vermeintlichen Geliebten seiner Frau (so etwas wie ein Deus ex Machina im Sinne der Aristotelischen Dramaturgie). Dieser Brief spricht – in Erwins Lesart – von der sexuellen „Erweckung“ seiner Frau. Diese, seine männlichen Fähigkeiten bloßstellende Entdeckung bestürzt ihn zutiefst (obwohl wir gerade an jenem Abend an der Verführung einer gewissen Felice teilnehmen; also neben Gattin und der Geliebten Franzi die dritte Frau in kurzer Zeit). Hass gegen Elisabeth keimt in ihm auf. Elisabeth ihrerseits ist während dieser Stunden im Grand-Hotel, wo sie eine Modenschau sieht und für eine Zeitung bespricht: sie will Journalistin werden. Oder vielleicht Kindergärtnerin. Oder wird sich Geld verdienen mit der Vermietung ihrer großen Wohnung. Das Problem der Gattin von Männern mit Karriere: sie ist ohne Beruf .
Elisabeth ist aber auch in „Trentinis Weinstube“ zu finden, danach auf dem just diesen Abend stattfindenden Akademikerball – und dann draußen in der Vorstadt.
Denn auch sie entdeckt – häufiger ist sie zwischen ihren Ausflügen für wenige Minuten zu hause, weil sie sich eigentlich schlafen legen will angesichts des frühen Scheidungstermins nächsten Tag, wobei sie sich dann aber doch lieber umzieht für das nächste Vergnügen, zu dem sie jeweils von Freunden mitgenommen wird -, denn auch sie entdeckt (ein weiterer Deus ex Machina in Gestalt mysteriöser monatlicher Zahlungen ihres Gatten an eine Vorstadt-Adresse) Kompromittierendes, das sich endlich in einem Kind materialisiert, in Luise, einer unehelichen Tochter Erwins. Und so fängt auch sie ihrerseits an, Erwin zu hassen, der von Anfang an ihren dringenden Kinderwunsch zurückgewiesen hatte.
Zum Showdown im letzten Kapitel des Romans werden die beiden Handlungsstränge wieder miteinander verknüpft: Erwin, Elisabeth, Luise und Elisabeths Hund Luzifer sind nun in Elisabeths, der vormaligen ehelichen Wohnung zusammen. Ist Erwin noch immer tief gekränkt, will er eine Änderung der Scheidungsvereinbarungen, so entdeckt Elisabeth einen neuen Willen an sich, sich nicht mehr wie ein blasses Weibchen zu benehmen …
Ihre Tragik ist, dass ihr gerade dieser neue Wille gar nicht recht ist, so dass wir Leser entlassen werden mit der uns vermittelten Lehre, dass Männer emotional dumm sind, eine meist zu lange Zeit brauchen, ihre Frauen verstehen zu lernen, dass dann aber eine heftige Umarmung, ein tief gefühlter Kuss genügen, um ein – für uns äußerst zweideutiges – Happyend zu erreichen: Così fan tutti und tutte lassen es sich gefallen: Erfüllung eines weiblichen Lebens ?! (Bevor es zur finalen Umarmung kommt, nennt Erwin Elisabeth „kalter Fisch“ und schlägt sie ins Gesicht. Die aus des Textes Interesse gefallene Luise spielt mit dem Hund.)
Dieser tragikomische Roman hat den Nationalsozialisten nicht gefallen können: Zwar ist er einerseits auch ein wenig frivol, doch andererseits ist er gewiss in Hinsicht auf den Mann zu wahr .
Von Gina Kaus’ Reaktion auf die Bücherverbrennung liest man in ihrer Autobiographie Von Wien nach Hollywood: „Am 10. Mai dieses Jahres 1933 wurden meine Bücher in Berlin öffentlich verbrannt, zusammen mit denen von über dreißig anderen Autoren. Nie zuvor war ich in besserer Gesellschaft gewesen.“
von Frank-Volker Merkel