Alice Rühle-Gerstel, Der Weg zum Wir. Versuche einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie, 1927

Quellenbeschreibung

In ihrer programmatischen Schrift „Der Weg zum Wir“, die im selbst gegründeten Verlag „Am andern Ufer“ 1927 erschienen ist, erprobte Alice Rühle-Gerstel die Zusammenführung der marxistischen und individualpsychologischen Theorien mit dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaftswerdung, einer in ihren Augen funktionierenden Gemeinschaft für die Zukunft. Geprägt von den politischen und sozialen Unruhen nach dem Ersten Weltkrieg, den Ereignissen nach der Russischen Revolution sowie den unsicheren Zeiten in der Weimarer Republik, stellte sie Überlegungen an, wie grundsätzliche gesellschaftliche Erneuerungen bzw. Umwälzungen aussehen könnten.

Bereits zu Beginn verbindet Rühle-Gerstel die Beurteilung der gegenwärtigen Situation mit einem psychologischen Ansatz: „Wenn eine Gesellschaftsordnung und eine zu ihr gehörige seelische Haltung den Fortbestand der Menschheit nicht mehr zu sichern imstande ist, macht sich Not auf allen Gebieten menschlichen Lebens fühlbar. Die alten Sicherungsmittel materieller und ideeller Art erweisen sich als unzulänglich und lassen eine immer größer werdende Anzahl von Menschen außerhalb ihres Bezugssystems. Wir befinden uns an solch einer geschichtlichen Umbruchsstelle.“ (S. 13). Sie wählt die beiden Theorien des Marxismus und der Individualpsychologie, weil sie nach ihrer Ansicht „eine Absage an den gegenwärtigen Zustand und ein Bemühen um [eine] neue Gesellschafts- und Menschwerdung enthalten“ (S. 14).

In drei Oberkapiteln gibt Rühle-Gerstel Einblicke in die Denkschulen des Marxismus und der Individualpsychologie Alfred Adlers, um dann im nächsten Schritt zu einem Versuch der Zusammenführung beider zu gelangen. Da sie in beiden Anschauungen ähnliche Richtungen und Ziele sieht, möchte sie mit diesem Ansatz in Zeiten der Unsicherheit und des Umbruchs eine Richtung geben und die Erneuerung der Gesellschaft fördern bzw. verwirklichen. In ihrer Schrift arbeitet sie Schritt für Schritt die Ideen und Konzepte heraus und unterstreicht diese mit ausgewählten Zitaten von Karl Marx und Alfred Adler. Im ersten Abschnitt erläutert Rühle-Gerstel den Marxismus in seinen Grundprinzipien, indem sie auf Themen der politischen Ökonomie, die Zwänge der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung und die Bedeutung des Klassenkampfes eingeht.

Die gesellschaftliche Realität beschreibt sie mit den folgenden Worten: „Der Kapitalismus ist die Epoche der Menschheitsgeschichte, in der alles Leben Wirtschaftsleben geworden ist, ebenso wie alle Dinge, ja mehr als die Dinge, auch Begriffe, Worte, Gefühle zu Waren geworden sind.“ (S. 17). Rühle-Gerstel entwirft ein eingängliches Bild hinsichtlich der Arbeits- und Produktionsbedingungen in der kapitalistischen, auf Mehrwert ausgerichteten Gesellschaft, wenn sie in Anlehnung an Marx und ihn zitierend ausführt: „Die Produktionsbedingungen sind das Gerüst einer Wanderbühne, das zu jedem neu aufzuführenden Stück den lokalen Möglichkeiten gemäß neu aufgezimmert wird. Die Menschen selbst sind aber die ‚Verfasser und Schauspieler ihres eigenen Dramas‘. Sie müssen ‚ihre Geschichte selbst produzieren und keine Macht des Himmels und der Erden kann sie davon befreien‘. Sie machen ‚diese Geschichte selbst, jedoch nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen Umständen‘.“ (S. 56). Es bedarf also einer Veränderung, einer gesellschaftlichen Umwälzung von innen, denn: „Die Menschen sind bedroht nicht durch die Ausbeuter, sondern durch die Ausbeutung, nicht durch die Herrschaft der Kapitalisten, sondern durch die Herrschaft des Kapitalismus, unterjocht nicht vom reichen Mann, sondern vom Geld […] Die subjektive Aufgabe des Proletariats ist die Abschaffung des Elends. Die historische Aufgabe des Proletariats ist die Aufhebung der Klassen. Die menschliche Aufgabe des Proletariats ist die Entsachlichung der Menschheit, ist die Erlösung vom Fetischismus [Entfremdung, KH] der Dinge, ist den ersten Schritt zu tun in die Geschichte der Menschheit.“ (S. 74f., diese sowie alle folgenden Hervorhebungen im Original). Nach dieser umwälzenden Praxis kann das Zeitalter des Kommunismus als Übergang zum Sozialismus beginnen, denn „dann darf die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (S. 78).

Das zweite Oberkapitel beinhaltet die wesentlichen Grundzüge der Individualpsychologie, anhand derer sie die gesellschaftlichen Begebenheiten folgendermaßen darstellt: „Seit die Menschheit in das Stadium der Individualisation getreten ist, ist die ursprüngliche Gemeinschaft immer mehr zerfallen und das Gemeinschaftsgefühl immer mehr verlorengegangen. Damit ist zwar die individuelle Selbständigkeit gewachsen […] Aber die menschliche Gesellschaft ist so geartet, daß sie durch eine starke Gemeinschaftsbindung am besten in ihrem Bestande und ihrer Förderung garantiert ist.“ (S. 85f.). Rühle-Gerstel hebt hier besonders den Typus des Neurotikers in der Gesellschaft hervor, der den Kapitalismus repräsentiert und der die Gemeinschaftsbindung mit seiner ausschließlichen Ichbezogenheit und seinem Streben nach Macht verhindert, da „seine Seele gar nicht mehr auf Leistung, sondern auf Geltung und Macht, zumindest auf Vermeidung von Geringgeltung und Ohnmacht eingestellt [ist].“ (S. 91).

Die Individualpsychologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, „die Quellen und Zustände der Unsicherheit und des Mangels aufzudecken […]“ (S. 101) sowie diese zu beheben. In der nun folgenden theoretischen Zusammenführung der beiden Lehren im dritten Oberkapitel fasst Rühle-Gerstel beide theoretische Überlegungen als Bewegungen auf, die in ihren Grundlagen, ihrer Funktionen und ihren Zielsetzungen einander weitestgehend entsprechen. Der Neurotiker „stellt sich daher ein neues Ziel: Abbau der Persönlichkeit und des Ueberlegenheitsstrebens, Herbeiführung einer Gemeinschaft von Gleichwertigen und Gleichwirkenden.“ (S. 162), damit eine sozialistische Gemeinschaft entstehen kann. Weiter führt sie aus: „Die Gemeinschaft wird also nicht aus der Erde gestampft, sie erhält nur eine neue Funktion: sie wird aus einer Gemeinschaft von Geltenwollenden eine Gemeinschaft von Sicherungswirkenden. Und auch die Gleichrangigkeit ist […] eine […] nötige Form des Zusammenlebens. Mit der Aufdeckung des Fetischcharakters der angeborenen Anlagen ist die allgemeine Basis gegeben, auf der sich später die freie Gleichheit der Mitmenschen wird entfalten können.“ (S. 163). Bei der Betrachtung des Zusammenwirkens beider Bewegungen stellt Rühle-Gerstel fest: „Im Zusammenarbeiten der beiden Systeme übernimmt vorläufig der marxistische Flügel die revolutionäre Seite der Bewegung (Kämpfe, Putsche, Verfassungsänderungen), während der individualpsychologische Flügel die evolutionäre Seite (Erziehung, Beratung, Therapie) bearbeitet.“ (S. 184). Und weiter heißt es: „Es leuchtet ohne weiteres ein, daß Menschen und Verhältnisse gleichzeitig und zusammen verändert werden müssen. Das könnte nun so verstanden werden: Die Individualpsychologie befaßt sich mit der Veränderung der Menschen, der Marxismus mit der Veränderung der Verhältnisse. Am Ziele – Gemeinschaft – treffen sie sich.“ (S. 196, Hervorhebungen im Original). Nur in der Gemeinschaft, auf dem Weg zu einem Wir, ohne Unterschiede, kommt man dem Marxschen Idealbild nahe, das Rühle-Gerstel am Ende zitiert: „Erst wenn der wirkliche, individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seines Forces propres (individuellen Kräfte) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ (S. 222).

Text: Katrin Huhn

Empfohlene Zitation

Alice Rühle-Gerstel, Der Weg zum Wir. Versuche einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie, Dresden 1927, veröffentlicht in: Digitale Bibliothek verbrannter Bücher, <https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-10> [29.03.2024].