Egon Erwin Kisch, Egon Erwin Kisch berichtet. China geheim, 1933

Quellenbeschreibung

Im Jahr der Bücherverbrennung erschien im Berliner Erich Reiss Verlag der Reportagenband „China geheim“ des „rasenden Reporters“ Egon Erwin Kisch. Er bereiste 1932 auf illegalem Wege sechs Wochen lang das von Krisen, Bürgerkriegen und militärischen Auseinandersetzungen gezeichnete Land. Zu Beginn des Jahres löste die so genannte Mandschurei-Krise (Januar-Mai 1932) eine Auseinandersetzung zwischen Japan und China aus, deren vorläufiger Waffenstillstand in Shanghai durch eine vom Völkerbund entsandte Kommission, die Lytton-Kommission, überwacht werden sollte. Daneben währte der bereits seit 1927 andauernde Chinesische Bürgerkrieg zwischen den Machthabern Tschiang Kai-schek und Mao Tse-tung, der im Jahr 1949 mit der Gründung der Volksrepublik China endete. Zu Kischs Stationen gehörte neben Peking vor allem das nun entmilitarisierte Shanghai, das vom „International Settlement“ (britische und amerikanische Enklaven in Shanghai 1924-1934) beaufsichtigt wurde. Kisch beobachtete gleichermaßen akribisch die Mächtigen und Einflussreichen wie die Ausgebeuteten und Verlierer:innen dieser Stadt und eröffnete so einen abseitigen und gänzlich unbekannten Blick auf die politische, wirtschaftliche und soziale Situation des vorkommunistischen Landes.

In den 23 Kurzreportagen gibt Kisch episodisch einen Überblick auf die von den Japanern verwüstete Stadt Shanghai mit ihren widersprüchlichen Seiten, er beobachtet die Machthabenden, die Lebens- und Arbeitswirklichkeiten der chinesischen Bevölkerung und die vorherrschenden sozialen und wirtschaftlichen Zu- und Missstände. Während seiner Streifzüge in „China geheim“ widmet er sich thematisch in einem sehr kritischen bisweilen sarkastischen Ton bspw. der Delegation des Völkerbundes, die den Waffenstillstand in Shanghai beobachten und überwachen soll. Ihre Tätigkeiten beurteilt er folgendermaßen: „Die Völkerbundskommission hatte sich mit der Besichtigung der Schlachtfelder Zeit gelassen, und so räumten die Japaner den Kriegsschauplatz ein wenig auf. […] Solcher Anblick hätte den Herren vom Völkerbund, die mit Empfängen, Tees, Diners und Soupers belastet sind, den Appetit verderben können.“ (S. 13). Deren Teilnehmer und ihre korrupten Aktivitäten werden in einem absurden Theaterstück namens „Der Dachgarten. Ein Kasperltheater vom 10. Juni 1932 in vorläufig zwei Akten“ am Schluss der Sammlung noch einmal vor- und bloßgestellt. Shanghai ist bevölkert von korrupten und ausbeuterischen Kolonialpolitikern und fremden Gesandten, die hier ihren lukrativen Geschäften nachgehen, allen voran die Engländer.

Kisch wird zum Beobachter einer von den Engländern geführten Gerichtsverhandlung am „Bagatellgerichtshof“ (S. 54), der zuständige schottische Polizist gibt ihm über die Abläufe folgende Auskunft: „Gewiß. Zu jeder Hinrichtung kommt ein katholischer Missionar. Manche Delinquenten wollen zuerst nichts davon hören, sich bekehren zu lassen, aber der Priester läßt nicht ab und so werden sie nervös (wörtlich: then they become nervous) und fügen sich drein. Nur die Politischen bleiben halsstarrig. Die andern lassen sich alle taufen.“ (S. 57). Im Senat werden reihenweise Kommunisten verurteilt: „Wer des Marxismus verdächtigt ist, wird nicht nach Gesetz und squeeze [Bestechung, Anm. KH] behandelt. Zwanzig Jahre Kerker oder Tod durch Erschießen oder Enthaupten sind sein Los.“ (S. 98).

Doch vor allem beobachtet Kisch auf den Straßen die unzähligen arbeitenden Rikschafahrer und deckt auf: „Der Zeuge dieser Straßenszenen kommt zu der Auffassung, daß sich die Kulis mit ihrer Rolle abgefunden haben: wir sind Zugtiere, man peitscht uns, man gibt uns wenig Futter – sie sind die Herren, wir ziehen und zerren – wir laufen dorthin, wohin es der Herr verlangt, der uns am Rücken sitzt. Nach fünfeinhalb Jahren ist es ohnehin vorbei und wir sind bei unseren Ahnen.“ (S. 69), jedoch hofft Kisch auf das Aufbegehren der lokalen Bevölkerung gegen ihre Unterdrückung und Ausbeutung, wenn er hinzufügt: „Irre dich nicht, Gedankenleser! Mancher Rikschakuli denkt vielleicht so, wie du vermutest. Doch viele gibt es, die sich abends in einem Haus treffen, Horchposten sind aufgestellt, damit die Polizei nicht überraschend eindringe, die Karren sind bei Freunden, eine Wagenburg ohne Kulis wäre verdächtig. Man lernt, diskutiert und beschließt…“ (S. 70).

Die chinesische Bevölkerung arbeitet für schlechte Löhne und Kisch vermittelt ein eindringliches Bild der katastrophalen Arbeitsbedingungen. Sein Blick gilt vor allem den verheerenden Folgen der lebensgefährlichen Arbeits- und Produktionsbedingungen für Kinder, die zu großen Teilen in den Shanghaier Textilfabriken arbeiten und in ihrer physischen Entwicklung von klein auf massiv gestört werden und bleiben. „Chinas Industrie ist eigentlich den Kinderschuhen bereits entwachsen, ihre Arbeiterschaft noch nicht. Physisch nicht: sie besteht zu vierzig Prozent aus Kindern, die, wie wir aus dem Krankenbefund ersehen, aus dem Kindesalter auch dann nicht herauskommen, wenn sie aus dem Kindesalter bereits heraus sind.“ (S. 101). Und weiter heißt es: „Aber wir sind doch in der Textilfabrik, bei den Lebenslänglichen. Der Begriff der Lebenslänglichkeit ist hier wörtlicher gefaßt als in den Strafgesetzbüchern: das Neugeborene liegt unter dem Webstuhl, Schwesterchen steht an der Spinnmaschine, Mutter arbeitet am Scherbaum, Großmutter näht die Ballen zusammen. So soll dein Leben ablaufen, Baby, nach dem Gesetz, nach dem du angetreten.“ (S. 107).

Kisch klagt die Fremdherrschaft über China an, indem er betont: „Die amerikanischen Yankees haben die Urbevölkerung Amerikas nur gejagt, getötet und ausgerottet. Die asiatischen Yankees haben die Urbevölkerung Chinas am Leben gelassen, um aus ihr Konzessionen und Kontributionen, Indemnitäten und Realitäten herauszupressen, aus ihr einträgliche Objekte für Opium und Morphium, Korruption und Prostitution zu formen, aus ihr Zugtiere und Haustiere und Arbeitstiere zu machen, ihre Kinder an Kinder-Spinnmaschinen zu stellen und ihren Boden zu besetzen. In den inneren Kämpfen, den Bürgerkriegen, haben die Fremden stets die Partei der einheimischen Unterdrücker genommen, nachdem sie beiden Seiten für gutes Geld Waffen geliefert hatten.“ (S. 149f.). Kisch weist anhand von Zeitungsmeldungen nach, dass sich Deutschland heimlich am lukrativen Waffenhandel in Shanghai beteiligt, obwohl es dazu nach den Versailler Vertragsverordnungen von 1919 nicht berechtigt ist.

Des Weiteren beobachtet Kisch die verarbeitende Produktion im Hafen Shanghais und berichtet anklagend: „Die Köpfe dieser erwachsenen und kindlichen Passagiere schaukeln kraftlos über der Brust, kraftlos hängen die Arme herab, die Chinas Waren für Europa und Amerika versandbereit gemacht haben, Daunen für Kissen, Eidotter für Mayonnaisen, Därme für Würste, Seide für Kleider, Felle für Pelzmäntel.“ (S. 218). Er hofft auf den Widerstand der Bevölkerung, vor allem seitens der chinesischen Kommunisten in den sechs „Sowjetgebieten“ des Landes, in denen „innerhalb [von] vier Jahren acht Millionen Menschen lesen und schreiben gelernt haben. […] Die Schriften von Marx, Lenin und Sunyatsen werden in Auflagen von einer Million gedruckt. In einer Stadt, wo Lenins ‚Staat und Revolution‘ wegen Papiermangels vergriffen war, erschienen Leute mit eigenhändig geschöpftem Papier in der Druckerei und zogen das Buch vom Letternsatz ab.“ (S. 228).

Egon Erwin Kisch erschafft durch seine faktenreichen und anschaulichen Reportagen ein Bild zweier Extreme, die China Anfang der 1930er Jahre prägen. Er führt eindringlich die prekären Lebensbedingungen der lokalen chinesischen Bevölkerung vor Augen und stellt diese in Kontrast zu denen der entsandten ausländischen Verantwortlichen, die einzig ihren Geschäften und kapitalen Vorteilen nachgehen. Kisch beendet seine Reportagensammlung verbittert mit folgenden Worten: „Raubbau statt Wirtschaft, Waffen statt Arbeitsmaschinen, Opium statt Nahrung, Missionare statt Lehrer, Polizei statt Gewerkschaften, das sind Europens Brautgeschenke an China.“ (S. 215).

Text: Katrin Huhn

Achtung! Rassistische und andere schwierige Begrifflichkeiten auf den folgenden Seiten: S. 49, S. 52, S. 56, S. 95f., S. 108, S. 197, S. 217, S. 244

Empfohlene Zitation

Egon Erwin Kisch, Egon Erwin Kisch berichtet. China geheim, Berlin 1933, veröffentlicht in: Digitale Bibliothek verbrannter Bücher, <https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-2> [25.04.2024].