Rahel Sanzara, Das verlorene Kind, 1926

Quellenbeschreibung

In ihrem von der Literaturkritik gefeiertem Debütroman „Das verlorene Kind“, der sehr erfolgreich verkauft und in elf Sprachen übersetzt wurde, beschäftigte sich Rahel Sanzara mit einem authentischen Mordfall, der in der bekannten Kriminalfallsammlung „Pitaval“ veröffentlicht wurde. Hierbei handelte es sich um einen 17-jährigen Jungen, der sich an einem vierjährigen Mädchen vergangen und es getötet hatte. Sanzara ging es in ihrem Roman vorrangig um Themen der triebhaften Veranlagung, Taten im Affekt, Schuld und Vergebung alle Angehörigen betreffend. Der Inhalt des Romans dreht sich also weniger um die Tat an sich, sondern darum, welche Folgen im Leben für alle Beteiligten daraus entstanden. Anhand der Figuren können die Lesenden jede Veränderung im Sein und Denken der jeweiligen Personen nachvollziehen. Indem Rahel Sanzara der Trieblehre Freuds einen großen Raum einräumt, ist es durchaus möglich, diesen Roman auch als eine literarisch-psychologische Fallanalyse zu betrachten. „Das verlorene Kind“ wurde bereits 1933 wegen des Verdachts der „Zersetzung“ und womöglich aufgrund des gewählten Pseudonyms Rahel Sanzara als „nichtarisch“ auf die Schwarzen Listen gesetzt.

Auf einem Gutshof im ausgehenden 19. Jahrhundert will der ehrbare, fromme und fleißige Christian B. eine gute Wirtschaft und Familie gründen. Er lernt die stille Martha kennen und heiratet sie kurze Zeit später. Es folgen Jahre des Glücks, die beiden bekommen drei Kinder und führen ein ergiebiges ländliches Bauernleben. Zu ihnen stößt bereits früh deren Amme Emma mit ihrem Sohn Fritz, der aus einer Vergewaltigung hervorging. Emma kümmert sich rührend und fürsorglich um alle Kinder des Hofes. Ihr 13-jähriger Sohn Fritz ist arbeitsam, zieht es jedoch meist vor, allein zu sein. Niemals möchte er bei den anderen sein oder bleiben, seine Scheu bleibt niemandem verborgen und er ist zunehmend Hohn und Spott ausgesetzt. Wenn er sich gedemütigt fühlt und die Kontrolle über seine Gefühle verliert, reagiert er sich an Tieren, die ihm eigentlich am Herzen liegen, ab und tötet sie.

Die kleine Anna, das vierjährige Mädchen von Martha und Christian, ist für alle eine wahre Freude auf dem Bauernhof. An ihrem vierten Geburtstag wird sie von Fritz in einer Scheune auf grausame Weise getötet. Kurze Zeit später arbeitet er fast manisch auf dem Hof weiter, während bereits alle anderen in Aufruhr und auf der Suche nach Anna sind. „‚Es muss Ordnung sein!‘, war jetzt der Trieb seiner Seele, wie vorher grauenhafte Zerstörung der Trieb seines Körpers gewesen war.“ (S. 73). Fritz selber ist sich seiner Tat nicht bewusst. Als er an der Scheune vorbeikommt, befällt ihn ein unangenehmes Gefühl: „Fritz stand still und blickte in den hohen, weiten, schweigenden und schwarzen Raum hinein. Da drinnen war etwas geschehen mit ihm, ganz im Verborgenen, etwas hatte er getan, was er noch nie getan hatte, er war ein Mann, kein Kind mehr. […] Scham ergriff ihn, vorsichtig schlich er einige Schritte in die Scheune hinein. Nein, er hatte alles in Ordnung gebracht.“ (S. 98).

Die Suche nach dem Mädchen nimmt viel Zeit in Anspruch, man geht davon aus, dass sie verschleppt wurde. Es gibt viele Falschaussagen und -meldungen, Christian verfällt aus Verzweiflung zunehmend dem Alkohol und Martha wird den Verlust nicht überwinden. „Das unabwendbar Traurige, Harte und Grausame ihres Schicksals verwandelte ihr Herz. Sie haßte die Kinder, ja selbst das verlorene, bis tief in die Erinnerung an das namenlose Glück, das es ihr bereitet hatte, bis zur Stunde selbst zurück, da sie glaubte, es empfangen zu haben. Die Söhne wollte sie nicht sehen.“ (S. 146). Beide Elternteile gehen ab dem Moment, in dem sie ihr Kind verloren haben, keine gemeinsamen Wege mehr. Als Christian Nachricht erhält, dass man seine Tochter weit weg im Gebirge gesehen hat, hofft er ein letztes Mal auf die Rückkehr seines Kindes und reist mit einem seiner Söhne dorthin. In dieser Zeit stirbt Martha und Christian macht sich Vorwürfe. Er schwört für die Zukunft: „Aber wie jetzt Gott zu mir hart war, war ich auch hart zu Martha und den anderen Menschen. Und ich werde nie mehr, wenn es in meiner Macht steht, hart zu einem Menschen sein, und wäre es der Mörder meines Kindes.“ (S. 210).

Ruhe und der Alltag kehren in das Gutsleben wieder ein, „[n]ur in zwei Menschen war neue und böse Unruhe erwacht, in den beiden Menschen, die gerade während der schlimmsten und bedrückendsten Zeit mit sich selbst in Frieden gelebt hatten, in Emma, der Mutter, und Fritz, ihrem Sohn.“ (S. 218). Emma ist verunsichert und besorgt um das Wesen ihres Sohnes, sie ahnt Schlimmes und hat sogar Angst vor ihm. „Oft machte sie sich Vorwürfe, ihn in seiner Kindheit nicht zärtlicher geliebt zu haben, und jeden Abend betete sie für ihn. Nein, während der schlimmsten Zeit, inmitten der größten Verzweiflung, inmitten der verfinsterten Gemüter hatte sie ihn allein stets heiter, furchtlos, unverändert gesehen.“ (S. 220). Als die beiden Söhne das Gut verlassen und auch Fritz einer anderen Anstellung nachgeht, empfindet Emma beim Abschied von ihm eine starke Abkehr: „Sie spürte, wie Kälte ihr Herz jäh umklammerte. Sie konnte nicht weitergehen, stand still und ließ die dem Sohn entgegengehobenen Arme sinken. Sie sah ihn an. […] Und doch konnte sie ihn nicht umarmen. Sie hatte kein Gefühl, keinen Gedanken. Ihr Gesicht war bleich.“ (S. 243). Etwa ein Jahr nach Annas Tod findet man ihre Leiche in der Scheune und Emma begreift sofort, dass ihr Sohn Fritz der Mörder ist. Er wird von der Polizei verhaftet und in Gewahrsam genommen, die Vernehmungen aller Beteiligten beginnen von neuem.

Bei der Verhandlung versteht Fritz nicht, worum es geht: „Unverständlich waren für ihn ‚Mord‘ und ‚Unzuchtsverbrechen‘, unverständlich waren ihm ja selbst die dunklen, bösen Gefühle, der Rausch und die mörderische Wollust, die in seiner Seele verborgen lagen. Das verschwundene Kind war ihm nicht mehr als ein versunkener Schlaf, eine in Bewußtlosigkeit verträumte Umarmung. Die Leiche des Kindes, die ausgebleichten Knochen und der hohle weiße Schädel hatten ihn an nichts erinnert. Er hatte geliebt und hatte gemordet, doch er wußte nicht, daß es zweierlei war, und er wußte nicht, daß er beides getan hatte.“ (S. 324). Emma belastet Fritz schwer und fordert die gerechte Bestrafung für seine Tat, bei der Verhandlung gibt sie ihm direkt zu verstehen: „Lüge nicht; laß dich totschlagen, du weißt ja nicht, wie böse du bist. […] Es ist so furchtbar mit dir, wenn du Freude haben willst, mußt du immer Böses tun, verstehst du das, die Natur ist böse in dir; du dürftest kein Mann sein, es wird nur immer Schreckliches aus dir kommen, leugne nicht, laß dich totschlagen […]“ (S. 333). Fritz wird zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Während seiner Haft realisiert er seine diffusen Gefühle des lustvollen Tötens und dass er Anna getötet hat: „Er dachte an sie und leises Schluchzen erschütterte seinen Körper. Er wußte, daß er einst das Furchtbare mit ihr getan hatte, was er jetzt gerne sich selbst getan hätte. Er wußte, daß er sich nach Mord sehnte, und daß er verloren war.“ (S. 365).

Christian B. plant, Fritz nach seiner Haft wieder auf das Gut zurückzuholen, denn „[j]etzt begriff er die Bedeutung jedes einzelnen menschlichen Daseins, das einmal erweckt, im Guten ebenso wie im Bösen verwurzelt sein konnte. Er dachte plötzlich klar und ohne innere Erregung, daß dreizehn Jahre vergangen waren, seit man sein Kind tot gefunden hatte. Er dachte an den Mörder im Gefängnis, an Fritz, der ein Kind gewesen war, wie die seinen, aufgewachsen unter dem Schutze seines Hauses zu solchem furchtbaren Ende. Hätte er nicht auch der Vater des Mörders sein können, statt der Erzeuger des armen, unschuldigen Opfers? Nicht bei ihm hatte diese Entscheidung gelegen und furchtbar war beides.“ (S. 387). Emma, die Mutter von Fritz, ist entsetzt über die Idee, doch Christian erwidert: „Er ist dein Kind, Emma, und ich habe ihn mit erzogen und habe ihn aufwachsen sehen. Wir sind hier einsame alte Leute, hier kann er mitleben, er soll gut leben unter meinen Augen.“ (S. 391). Fritz, man nennt ihn nun Martin, gelangt weiterhin in Momenten der Demütigung und des Spottes an ihm in Verbindung mit Alkohol wieder in einen Tötungsrausch und zerstampft seinen liebevoll aufgezogenen und umsorgten Igel. Auf der anderen Seite jedoch kümmert er sich um die Belange der alternden Menschen auf dem Gut und sorgt für sie. Die Folgen der Gefängnishaft lassen ihn nicht sehr alt werden und er verstirbt. Christian B. beerdigt alle ihn Umgebenden, „[e]r sah und hörte gut bis zu seinen letzten Tagen. Die Kräfte seines Körpers und seiner Sinne verließen ihn nicht. Er arbeitete bis zuletzt, doch waren seine Bewegungen voll tiefster Müdigkeit, die nicht aus der Schwäche der Glieder, sondern aus seiner verstummten Seele kam.“ (S. 440 f.).

Text: Katrin Huhn

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Empfohlene Zitation

Rahel Sanzara, Das verlorene Kind, Berlin 1926, veröffentlicht in: Digitale Bibliothek verbrannter Bücher, <https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-4> [23.04.2024].