Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, 1927

Quellenbeschreibung

Joseph Roth, seinerzeit ein bekannter Schriftsteller und Journalist, beobachtete bereits Anfang der 1920er Jahre besorgt den aufkommenden und erstarkenden Antisemitismus. Vehement warnte er vor den Nationalsozialisten und engagierte sich laut gegen sie, auch ab 1933 aus seinem Pariser Exil heraus bis zu seinem Tod 1939.

Er nimmt in seinem beeindruckenden Essay „Juden auf Wanderschaft“, der als Ergebnis einer Recherchereise für die „Frankfurter Zeitung“ 1927 im Berliner Verlag „Die Schmiede“ erschien, eine Gesamtschau der Lebens- und Arbeitsbedingungen an den neuen Orten der in Europa und Amerika verstreut lebenden Ostjuden und Ostjüdinnen vor, die gleichzeitig eine liebevolle und sehr ehrliche Verteidigungsschrift ist. Bereits in seinem Vorwort macht er deutlich, worum es ihm geht: „Der Verfasser hat die törichte Hoffnung, daß es noch Leser gibt, vor denen man die Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Achtung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet; Westeuropäer, die auf ihre sauberen Matratzen nicht stolz sind; die fühlen, daß sie vom Osten viel zu empfangen hätten und die vielleicht wissen, daß aus Galizien, Rußland, Littauen, Rumänien große Menschen und große Ideen kommen; aber auch (in ihrem Sinne) nützliche, die das feste Gefüge westlicher Zivilisation stützen und ausbauen helfen – nicht nur die Taschendiebe, die das niederträchtigste Produkt des westlichen Europäertums, nämlich der Lokalbericht, als ‚Gäste aus dem Osten‘ bezeichnet. Dieses Buch wird leider nicht imstande sein, das ostjüdische Problem mit der umfassenden Gründlichkeit zu behandeln, die es erfordert und verdient. Es wird nur die Menschen zu schildern versuchen, die das Problem ausmachen und die Verhältnisse, die es verursachen.“ (S. 8).

Roth verteidigt die Überzeugungen und Lebensweisen der ostjüdischen Bevölkerung und versucht den Lesenden klarzumachen, dass die gängigen Vorurteile über sie substanzlos und unbegründet sind. So nimmt er beispielsweise Bezug auf deren Motivation auszuwandern: „Dem Ostjuden bedeutet der Westen Freiheit, die Möglichkeit, zu arbeiten und seine Talente zu entfalten, Gerechtigkeit und autonome Herrschaft. […] Dem Ostjuden ist Deutschland zum Beispiel immer noch das Land Goethes und Schillers, der deutschen Dichter, die jeder lernbegierige jüdische Jüngling besser kennt, als unser hakenkreuzlerische[r] Gymnasiast.“ (S. 9) Indem Roth anhand mehrerer Beispiele klarmacht, dass die Auswanderung eine qualitative Lebensverbesserung für die Menschen bedeutet, ergibt sich die Möglichkeit, ein besseres Verständnis für deren Motivation zu entwickeln. Die Lebensbedingungen im Osten werden zunehmend schwerer und so erläutert Roth, dass es nur nachvollziehbar sei, zu gehen: „Alle jungen Leute des Orts – und sogar die Älteren – ergreift die Lust, auch auszuwandern; dieses Land zu verlassen, in dem jedes Jahr ein Krieg und jede Woche ein Pogrom ausbrechen könnte. Und man wandert, zu Fuß, mit der Eisenbahn und auf dem Wasser, nach den westlichen Ländern, in denen ein anderes, ein bis[s]chen reformiertes, aber nicht weniger grausames Ghetto sein Dunkel bereit hält, die neuen Gäste zu empfangen, die den Schikanen der Konzentrationslager halb lebendig entkommen sind.“ (S. 11)

In seinem Essay schaut sich Roth verschiedene Städte an, in denen sich Ostjuden und -jüdinnen niedergelassen haben. Eine erste Station, Roths Heimat, ist Österreich, dort nimmt er den breiten Antisemitismus und die starke Nichtakzeptanz der jüdischen Bevölkerungsgruppe seitens der einzelnen Nationen auf, mit denen die Zugezogenen konfrontiert waren: „Jede österreichische Nation berief sich auf die ‚Erde‘ die ihr gehörte. Nur die Juden konnten sich auf keinen eigenen Boden (‚Scholle‘ sagt man in diesem Fall) berufen. Sie waren in Galizien in ihrer Mehrheit weder Polen, noch Ruthenen. Der Antisemitismus aber lebte sowohl bei Deutschen, als auch bei Tschechen, sowohl bei den Polen, als auch bei den Ruthenen, sowohl bei den Magyaren, als auch bei den Rumänen in Siebenbürgen.“ (S. 19) Äußerst kritisch und zuweilen bitter sarkastisch beschreibt Roth den Prozess der Assimilation und die weitere Entwicklung der vergangenen Jahre: „Sie haben kein ‚Vaterland‘, die Juden, aber jedes Land, in dem sie wohnen und Steuer zahlen, verlangt von ihnen Patriotismus und Heldentod und wirft ihnen vor, daß sie nicht gerne sterben.“ (S. 23), und weiter: „Wenn die Ostjuden nicht soviel Angst hätten, sie könnten sich mit Recht rühmen. Das militärfeindlichste Volk der Welt zu sein. Sie waren lange Zeit von ihren Vaterländern, Rußland und Österreich, nicht würdig befunden worden, Militärdienst zu leisten. Erst als die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden kam, mußten sie einrücken. Es war eigentlich eine Gleichverpflichtung, keine Gleichberechtigung. Denn hatten bis dahin nur die Zivilbehörden die Juden schikaniert, so waren sie nun auch den Schikanen der Militärbehörden ausgeliefert.“ (S. 86). Dennoch, so beobachtet Roth, sind im Laufe der Jahrzehnte die Kinder und Enkelkinder der Eingewanderten „angekommen“: „Die Enkel sind westlich geworden. Sie bedürfen der Orgel, um sich in Stimmung zu bringen, ihr Gott ist eine Art abstrakter Naturgewalt, ihr Gebet ist eine Formel. Und darauf sind sie stolz!“ (S. 25). Roth betrachtet die Verhältnisse in Wien: „Die Leopoldstadt ist ein freiwilliges Ghetto. Viele Brücken verbinden sie mit den andern Bezirken der Stadt. Über diese Brücken gehen tagsüber die Händler, Hausierer, Börsenmakler, Geschäftemacher, also alle unproduktiven Elemente des eingewanderten Ostjudentums. Aber über dieselben Brücken gehen in den Morgenstunden auch die Nachkommen derselben unproduktiven Elemente, die Söhne und Töchter der Händler, die in den Fabriken, Büros, Banken, Redaktionen und Werkstätten arbeiten. Die Söhne und Töchter der Ostjuden sind produktiv. Mögen die Eltern schachern und hausieren. Die Jungen sind die begabtesten Anwälte, Mediziner, Bankbeamten, Journalisten, Schauspieler.“ (S. 53f.).

Ein gänzlich anderes Bild zeigt sich in Berlin: „So traurig ist keine Straße der Welt. Die Hirtenstraße hat nicht einmal die hoffnungslose Freudigkeit eines vegetativen Schmutzes. Die Hirtenstraße ist eine Berliner Straße, gemildert durch ostjüdische Einwohner, aber nicht verändert. Keine Straßenbahn durchfährt sie. Kein Autobus. Selten ein Automobil. Immer Lastwagen, Karren, die Plebejer unter den Fahrzeugen.“ (S. 68). Dagegen in Paris: „Die Pariser Ostjuden dürfen leben, wie sie wollen. Sie können ihre Kinder in rein jüdische Schulen schicken oder in französische. Die in Paris geborenen Kinder der Ostjuden können französische Staatsbürger werden.“ (S. 77). Als Roth einen ostjüdischen Restaurantinhaber fragt, warum er nach Paris gegangen ist, antwortet dieser ihm: „[…] Excusez, monsieur, pourquoi nicht nach Paris? Aus Rußland schmeißt man mich hinaus, in Polen sperrt man mich ein, nach Deutschland gibt man mir kein Visum. Pourquoi soll ich nicht kommen nach Paris?“ (S. 78).

Auf einen weiteren besonderen Unterschied geht Roth hinsichtlich des Zusammenlebens mit den SephardInnen Spaniens ein, indem er ausführt: „Man kann sich freilich keinen stärkeren Gegensatz denken, als den zwischen Ostjuden und spaniolischen. Die spaniolischen Juden verachten die ‚Aschkenasim‘ im allgemeinen, die Ostjuden im besonderen. Die spaniolischen Juden sind stolz auf ihre alte adelige Rasse. Mischehen zwischen Spaniolen und Aschkenasim kommen selten, zwischen Spaniolen und Ostjuden fast nie vor.“ (S. 83).

Hoffnungsfroh blickt Roth nach Russland: „Wird in Rußland die Judenfrage gelöst, so ist sie in allen Ländern zur Hälfte gelöst. (Jüdische Emigranten aus Rußland gibt es noch kaum, eher jüdische Einwanderer.) Die Gläubigkeit der Massen nimmt in einem rapiden Tempo ab, die stärkeren Schranken der Religion fallen, die schwächeren nationalen ersetzen sie schlecht. Wenn diese Entwicklung dauert, ist die Zeit des Zionismus vorbei, die Zeit des Antisemitismus - - und vielleicht auch des Judentums. Man wird es hier begrüßen und dort bedauern. Aber Jeder muß achtungsvoll zusehn, wie ein Volk befreit wird von der Schmach, zu leiden und ein anderes von der Schmach, zu mißhandeln; wie der Geschlagene von der Qual erlöst wird und der Geschlagene vom Fluch, der schlimmer ist, als eine Qual. Das ist ein grosses Werk der russischen Revolution.“ (S. 104).

Text: Katrin Huhn

Achtung! Diskriminierender Begriff: S. 94

Empfohlene Zitation

Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, Berlin 1927, veröffentlicht in: Digitale Bibliothek verbrannter Bücher, <https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-20> [27.08.2025].