Georg Fink, Mich hungert, 1929

Quellenbeschreibung

Kurt Münzers Werke standen schon früh auf den sogenannten Schwarzen Listen der Nationalsozialisten, ab 1933 legte man ihm ein Publikationsverbot auf. Zu Beginn der 1920er Jahre beschäftigte er sich bereits literarisch intensiv und öffentlichkeitswirksam mit dem verheerenden Antisemitismus der Deutschen.

Sein Roman „Mich hungert“, den Münzer unter seinem Pseudonym Georg Fink beim Cassirer Verlag 1929 veröffentlichte, thematisiert eine von Armut und Leid geprägte Kindheit im Berliner Wedding zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Protagonist, der Halbjude Theodor König, erinnert sich an seine Zeit als Kind. Seine erste Erinnerung, da ist er vier Jahre alt, ist die folgende: „‚Da steh, rühr dich nicht! Nimm den Hut ab, halt ihn hin, so, vor dir. Und dann sagst du fortwährend: O, mich hungert, bitte, bitte, liebe Dame, mich hungert … […]‘“. (S. 19). Sein gewalttätiger Vater zwingt ihn dazu zu betteln, damit vor allem sein Vater seine Saufrunden durch die Kneipen der Arbeiterviertel bezahlen kann.

Dagegen erzählt Theodor voller Liebe und Zuneigung Theodor von seiner Mutter Perdita, die sich um ihn und seine Geschwister voller Aufopferung kümmert. Er berichtet von ihrer Herkunft: „Es war ein frommes jüdisches Haus, und ihre Mutter Henriette trug noch einen Scheitel. Sabbatlichter und die hochheiligen Feste der Versöhnung, des Neujahrs brachten die schönste Poesie in ihr Kleinstadtdasein. […] Sie hat nichts mehr gehalten, nie mehr ein jüdisches Buch aufgeschlagen, immer nur deutsch über mir und mit mir gebetet. Aber sie war Jüdin geblieben.“ (S. 31). Tagtäglich konfrontiert mit Hunger, Not und dem prügelnden Vater, kann er nicht verstehen, warum seine Mutter ihren Mann nicht hinauswirft. An besonders schlimmen Tagen wütet er in der Wohnung und brüllt seine Familie an: „‚Judenbrut! Tut euch nur zusammen. Das geht ja in eins auf. Wenn ich blos det Jesichte nich mehr sehn müßte! Wie kommt so’n Judenbengel zu mir! Aber det kann ’n Mann passieren, der so ne Frau hat. Packt euch!‘“ (S. 50). Er kommt und geht, ist manchmal tagelang verschwunden, taucht wie aus dem Nichts wieder auf und bedient sich an allem, was seine Frau mühevoll mit zusätzlicher nächtlicher Lohnarbeit verdient hat. Oft sieht Theodor seine Mutter in großer Verzweiflung, weil sie nicht weiß, wie sie ihre Familie versorgen soll: „Sie starrte sich an, die leichenhaft überlaufen aussah, wie auf dem Grunde eines Gewässers, und schlug sich an die Brüste, diese nun überflüssigen Brüste. Wenn sie sie abschneiden und den Kindern braten könnte … solche irren Gedanken hatte Perdita …“ (S. 51).

Das Elend und die Not in den Berliner Arbeitervierteln zeigt sich in Theodors Wohnhaus und den Geschichten seiner BewohnerInnen: „In den hundert Stuben und Küchen des Hauses war die ganze Armut der Welt zu sehen, und noch immer war es nicht die bitterste. Denn es waren noch Stuben, es gab ein Dach, einen Ofen. Andere hatten nur die Bänke in den Hainen, die Brückenbögen, die erbrochenen Lauben.“ (S. 105). Als Perdita es schafft, ihren Mann hinauszuwerfen, wohnen verschiedene Untermieter vorübergehend in der Wohnung. Theodor beobachtet die Männer, die sich da abends zusammenfinden, Prostituierte mitbringen und trinken: „Erst stritt man sich. Politik. Ein paar Männer waren organisiert, manchmal war jemand aus der anarchistischen Partei da, einer aus irgendeinem revolutionären Bund. Dann hielten sie Reden. Jeder in den Schlagworten seines Agitationsorgans, und die andern schrien in der Diskussion die Stichworte ihrer Demonstrationsredner. Alles war immer resultatlos. Alle hören nicht dem anderen zu, jeder wartete nur, seine Parteidevisen schreiend einwerfen zu können. Dann kam das Zetern und Schimpfen. Gesellschaft, Kapitalismus, Militarismus, Monarchismus. Hier waren sie schon betrunken.“ (S. 65). Theodor ist gut in der Schule und wird deswegen von den anderen Kindern gehänselt. Sein Lehrer und Schulrektor fordert, dass Theodor in einer anderen Umgebung gefördert werden soll. Als er das erste Mal das Anwesen des Fabrikanten Falk betritt, ist er verzaubert von der Ruhe, der ihn umgebenden Literatur und des freundlichen und zuvorkommenden Sohnes Stefan, der nun gemeinsam mit ihm lernt: „Und es war so schön hier, die Menschen, die Ruhe, das Schweigen, selbst das Licht. Ich meinte nicht die Pracht der Möbel und die Bilder und die Sessel, nicht den Reichtum, sondern die Atmosphäre.“ (S. 131). Der Fabrikant möchte Perdita und die Familie finanziell unterstützen, doch sie lehnt ab: „Endlich stammelte sie hervor: ‚Lassen Sie es damit gut sein. Nehmen Sie mir nicht den letzten Halt meines Lebens. Wenn ich mich erst hinsetze, kann ich nie wieder aufstehen.‘ Ich glaube, ihr ganzes Leben war Selbstvorwurf, Selbstgeißelung, Strafe, die sie abdiente.“ (S. 173).

1914, Theodor ist elf Jahre alt, beginnt der Erste Weltkrieg: „Mit dem Krieg begann für uns Arme die gute Zeit: auf einmal waren sich alle gleich. Alle mußten Margarine essen und schlechtes Brot, Kohlrüben und Graupen. Alle mußten sich anstellen, um ihre hundert Gramm Fleisch zu holen.“ (S. 222). Zwei Jahre später fällt sein Vater im Krieg, es hat etwas Gutes: „Was der lebende Vater uns Böses getan, machte der tote ein wenig wieder gut: Mutter bekam eine Unterstützung, eine feste Rente. Von da ab blieb sie am Sonnabend zu Haus und war den halben Sonntag müßig. Zum ersten Mal ging sie mit mir spazieren, setzte sich mit uns Kindern in den Hain, kaufte uns ein Stück Kriegskuchen. Sie trug den Kopf höher und manchmal lächelte sie …“ (S. 225). Das Kriegsende 1918 bedeutet maßgebliche Veränderungen im Handeln und Denken der Menschen: „Es gab kaum noch Fahnen bei uns in den Straßen. Es gab noch immer trügerische Siegesmeldungen, aber man steckte das bunte Tuch nicht mehr hinaus. Als wir in das vierte Jahr des Untergangs gerieten, glaubten wir, w i r nicht mehr … Aber ein neuer Glaube brach an. Mystische Botschaft kam aus Rußland … Da hatte man die Ordnung gedreht, die Regierenden lagen unten und das Volk stand im Licht. Der Arbeiter hatte das Reich gestürmt und proklamierte sein Recht auf Leben. Etwas wie Sonne fiel in unser Herz. Es ging eine wilde Hoffnung durch das Proletariat. Drüben ging in blutiger Röte ein goldener Stern auf, unser Stern.“ (S. 232f.).

Theodors Mutter erkrankt und er muss sich um sie kümmern, sie können sich keinen Besuch beim Arzt leisten und er pflegt und umsorgt sie bis zu ihrem Tod. „In diesen drei Tagen lernte ich den Himmel des Dienens kennen. Diesen Leib zu betreuen war die Gnade. Die Demut, mit der ich eines Menschen letzten leiblichen Verrichtungen half, war Glanz und Seligkeit, darin ich wandelte. Drei Tage waren das Glück. Wir gehörten einander, wie ich nie wußte, daß Menschen sich gehören können.“ (S. 262). 1919 verstirbt sie und Theodor beginnt eine Lehre als Buchhalter in einer Papierfabrik. Die 1920er Jahre sind schwere Zeiten für die Armen der Stadt, Theodor berichtet: „Die Inflation fraß uns auf, die Stadt verseuchte, und oft schlug der Jammer unseres Hauses über mir zusammen. Ich sah das Fleisch von Kindern fallen, sie hörten zu spielen auf, sie wurden zu schwach zur Lust. Die Männer wurden arbeitslos, und während sie stundenlang anstanden, ihre Unterstützung ausgezahlt zu bekommen, brauchten die Frauen den Tag, um Brot und Schmalz zu erlangen.“ (S. 292). Man hofft auf die Revolution und Theodor beobachtet die Menschen in den Straßen: „Ich hörte, im Vorbeigehen, wilde Phantasien von Aufstand, von Weltrevolution. Rußlands neuer Stern, das Licht des Sowjets, stand über unsern Elendsquartieren, und sie beteten zu ihm, hofften auf ihn, glaubten an ihn. Abend für Abend traten Redner auf, Frauen wurden beredt, Kinder beherrschten den Jargon der K.P.D..“ (S. 294). Rückblickend beschließt Theodor seine Erinnerungen mit den folgenden Worten: „Ich bettle immer noch in der Invalidenstraße, ich, ich – wenn ich auch jetzt anders heiße, wenn es auch ein anderer Junge ist, der die Hand hinhält.“ (S. 368).

Text: Katrin Huhn

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Empfohlene Zitation

Georg Fink, Mich hungert, Berlin 1929, veröffentlicht in: Digitale Bibliothek verbrannter Bücher, <https://www.verbrannte-buecher.de/bibliothek/source-29> [03.07.2025].