Erstellung ›schwarzer Listen‹ durch Berliner Volksbibliothekare

Die erste Seite der „Schwarzen Liste“ zur „Schönen Literatur“, erstellt von Wolfgang Herrmann und verschickt an die ›Deutsche Studentenschaft‹ am 1. Mai 1933.

Schusters Verbandskollege im Vorstand, Dr. Wolfgang Herrmann, trug auf andere Weise zur „Säuberung“ der öffentlichen Bibliotheken bei. Am 14. April 1933 erschien im Berliner Börsen-Courier der Artikel „Säuberung der Stadtbibliothek“. Darin wurde mitgeteilt, der Berliner Oberbürgermeister Heinrich Sahm erachte es im Sinne der „kulturellen Erneuerung der Nation“ als unbedingt erforderlich „von den deutschen Volksgenossen jede Lektüre“ fernzuhalten, „die in irgendeiner Beziehung eine marxistische Tendenz aufweist“. Drei Volksbibliothekare wurden so von der Stadt Berlin mit dem Auftrag versehen, einen „Ausschuss zur Neuordnung der Berliner Stadt- und Volksbüchereien“ zu gründen. Diesem Ausschuss gehörten die Leiter der Stadtbüchereien Spandau und Köpenick, Max Wieser und Hans Engelhard, sowie Wolfgang Herrmann an, der als Vorstandsmitglied des Verbands Deutscher Volksbibliothekare „ehrenamtlich“, wie es im Börsen-Courier hieß, im Ausschuss beschäftigt werden sollte.

Die erste Seite der „Schwarzen Liste“ zur „Schönen Literatur“, erstellt von Wolfgang Herrmann und verschickt an die ›Deutsche Studentenschaft‹ am 1. Mai 1933.

In Berlin hatten die Studenten ihr Plakat „Wider den undeutschen Geist“ besonders eifrig geklebt, und so war es Herrmann nicht entgangen, dass Nazi-Studenten auf einen Einfall gekommen waren, der auch an seinem Schreibtisch hätte entstehen können, wenn er Position und Mittel zu seiner Durchführung gehabt hätte. Herrmanns Auftrag war regional begrenzt, er sollte „Schwarze Listen“ mit Büchern erstellen, die zunächst nur aus den Berliner Stadt- und Volksbibliotheken aussortiert werden sollten. Eine Genehmigung oder einen Auftrag für eine breitere Verwendung der Listen hatte er, nach derzeitigem Forschungsstand, nicht erhalten. Dennoch nahm der Bibliothekar mit dem Berliner Hauptamt für Presse und Propaganda der Deutschen Studentenschaft, mit Hanskarl Leistritz Kontakt auf. Ab dem 26. April 1933, Herrmann hatte noch keine zwei Wochen ehrenamtlich gearbeitet, schickte er – beginnend mit einer eilig zusammengestellten Liste über „Schöne Literatur“ – nach und nach weitere „Schwarze Listen“, die er zusammen mit den Mitgliedern des „Ausschusses zur Neuordnung“ anfertigte. Die erste Liste „Schöne Literatur“ mit zunächst 71 Namen erweiterte er noch einmal erheblich auf 127 Autorinnen und Autoren und vier Anthologien. Diese Liste ging am 1. Mai an die Studenten mit dem Hinweis, sie sei nun „ganz umfassend“ und würde am nächsten Tag voraussichtlich durch den preußischen Kultusminister Rust für „alle preußischen Volksbüchereien als verbindlich erklärt“. Dieser Erklärung des Kultusministeriums folgte tatsächlich noch im Mai, doch es konnte bislang nicht nachgewiesen werden, dass vom preußischen Kultusminister auch der Auftrag zur Erstellung der ›Schwarzen Listen‹ erfolgte. Möglicherweise arbeitete Herrmann mit dem Kampfbund für Deutsche Kultur zusammen, dessen Mitglied Herrmanns Kollege im Ausschuss, Max Wieser, war. Einen Auftrag eines Reichsministeriums oder der NSDAP-Parteileitung für die Erstellung der Listen hatte es zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben.

Zwei weitere „Schwarze Listen“ für die Gebiete „Allgemeines, Geschichte“ und „Kunst“ gingen vier Tage später an die Studenten. Es folgten am 8. Mai weitere, wiederum zu den Gebieten „Geschichte“ und „Kunst“, außerdem „Politik und Staatswissenschaft“, „Religion“, „Philosophie“, „Pädagogik“, „Literaturwissenschaft“ und „Jugendschriften“ – insgesamt über 190 Namen von Autorinnen und Autoren. Nicht nur anhand der Zeitpunkte, zu denen Herrmann seine Listen verschickte, kann geschlussfolgert werden, dass es sich um eine spontane Kooperation zwischen den Berliner Volksbibliothekaren Herrmann, Wieser, Engelhard und der Deutschen Studentenschaft gehandelt haben muss. Die Listen waren in Eile erstellt worden, einige Autorennamen falsch geschrieben.

Diejenigen Autoren, die in der Weimarer Republik mit Verboten und Prozessen konfrontiert waren, fanden sich fast allesamt auf den Listen wieder, davon abgesehen aber waren es nicht nur SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen mit „marxistischer Tendenz“ wie der Ökonom und frühere SPD-Finanzminister Rudolf Hilferding (1877-1941), der neben Rosa Luxemburgs „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ (1913) mit seinem Buch „Das Finanzkapital“ 1910 eine Analyse des Monopolkapitalismus veröffentlicht hatte. Auf der Liste fanden sich viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die als „jüdisch“ verfolgt wurden, wie die Romanciers Lion Feuchtwanger (1884-1958) und Jacob Wassermann (1873-1934), linke AutorInnen, die Marx studiert hatten, darunter Bertolt Brecht (1898-1956), Anna Seghers (1900-1983), Egon Erwin Kisch (1885-1948), wie auch Pazifisten, die die Schrecken des Kriegs, seine sozialpsychologischen und politischen Bedingungen und Folgen zu einem Thema ihrer Arbeiten gemacht hatten: Henri Barbusse (1873-1935), Erich Maria Remarque (1898-1970), Arnold Zweig (1887-1968), Ernst Glaeser (1902-1963) oder Adrienne Thomas (1897-1980) mit ihrem Buch „Kathrin wird Soldat“. Die Abgrenzung der einzelnen Gruppen oder die Frage, wer der eigentliche Feind bei der Zusammenstellung der Listen war, ist dabei nicht so einfach zu beantworten. In einem Grundsatzpapier des ›Ausschusses zur Neuordnung‹ heißt es unter Punkt 2:

„Der Kampf richtet sich gegen die Zersetzungserscheinungen unserer artgebundenen Denk- und Lebensform, d.h. gegen die Asphaltliteratur, die vorwiegend für den großstädtischen Menschen geschrieben ist, um ihn in seiner Beziehungslosigkeit zur Umwelt, zum Volk und zu jeder Gemeinschaft zu bestärken und völlig zu entwurzeln.“

In seinen Listen bezog sich Herrmann aber keinesfalls nur auf die Literaturprozesse aus der Weimarer Zeit. Aus der Vielzahl der Namen, die auf den Listen stehen, lässt sich der Versuch herauslesen, einen nationalistischen Kanon eines „deutschen Wesens“ zu etablieren, den Konsens einer sich stramm zur Nation bekennenden Einheit ohne soziale Gegensätze, Widersprüche und Probleme, deren Thematisierung den Nazis als „zersetzend“ galt. Der germanistische Volkskundler und Mediävist Hans Naumann (1886-1951) forderte in seiner Rede während der Bonner Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Bonner Marktplatz mit dem emphatischen „wir“ der gesamten Nation, für die er sprechen wollte: „Wir wollen ein Schrifttum, dem Familie und Heimat, Volk und Blut, das ganze Dasein der frommen Bindungen wieder heilig ist. Das uns zum sozialen Gefühl und zum Gemeinschaftsleben erzieht, sei es in der Sippe, sei es im Beruf, sei es in der Gefolgschaft oder in Stamm und Nation.“

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